Heute starte ich ein Experiment. Ich fahre eine Strecke, die mit dem Auto etwa 130 Kilometer ausmachen würde, um eine Neunjährige bei ihrer Mutter einzusammeln.
Es geht hier darum, das Kind an die Bahn zu gewöhnen, um es selbständiger zu machen. Ja, natürlich verwende ich zu diesem Zweck das Neun-Euro-Ticket. Diese Fahrt, die südlich von Hamburg beginnt und – ich schreibe diesen Artikel live – hoffentlich irgendwann nördlich von Hamburg am Zielort endet, soll plangemäß 2,5 Stunden dauern. Mit dem Auto wären es etwa 1,5 Stunden.
Die Fahrt beginnt an einem kleinen Provinzbahnhof um 11:33. Soweit der Plan. Der scheitert allerdings gleich zu Beginn an der einspurigen Streckenführung. Der Zug in die Gegenrichtung hat bedauerlicherweise 25 Minuten Verspätung. Das bedeutet, daß der nichtverspätete Zug warten muß, bis der Bummelant vorbeigezogen ist.
Jedenfalls ist damit der Anschlußzug nach Hamburg futsch. Dies wäre möglicherweise und dank großzügiger Anschlüsse noch heilbar gewesen – Sie sehen meine positive, verkehrszugewandte Grundhaltung – , allein, darauf kam es im Weiteren nicht mehr an, denn der in Hamburg geplante Anschlußzug wurde nicht in Hamburg Hbf eingesetzt, sondern erst in Hamburg-Altona. Grund war der Ausfall einer Signalanlage. Lustigerweise waren davon wohl etliche Züge betroffen, weshalb am Hauptbahnhof auf vielen Gleisen Tohuwabohu herrschte. Die Leute kamen wohl allesamt auf ungewohnten Gleisen an, und strebten verlegten Anschlüssen zu.
Als langgedienter Hamburger wußte ich natürlich, daß ich jetzt die S-Bahn nehmen muss und wo die zu finden ist.
Trotz dieses überlegenen und Zeit sparenden Wissens gelang es nicht, den Anschluß an diese Regionalbahn zu erhaschen. Und jeder Nichtanschluß bedeutet hier: Eine Stunde Zeitverlust, denn dies ist die Taktung im Regionalverkehr.
Das Experiment ergibt also statt 1,5 Stunden im Auto 3,5 Stunden in der Bahn. Diese Fahrt hätte ohne 9-Euro-Ticket für eine einfache Fahrt genau 9 Euro gekostet. Also 18 Hin und Her. 27 für zwei. 54 für ein Wochenende.
(UPDATE: Ich bin hier auf den DB-Navigator hereingefallen. Tatsächlich kostet die Strecke für eine Person hin und zurück 42 Euro, nicht 18. Also für das Abholen am Freitag und das Zurückbringen am Sonntag 84 Euro.)
(Update zum Update: 35,20x2x2=140,80)
An dieser Stelle ein kleiner, ökonomischer Hinweis: Wieviel sind zwei Stunden Verspätung in der Bahn wert? Für einen Mindestlöhner sind es ab Oktober 24 Euro.
Für den Durchschnittsverdiener liesse es sich rechnen:
„Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrug das durchschnittliche Bruttoeinkommen im Jahr 2021 bei Männern in Vollzeit 23,20 Euro pro Stunde. Frauen in Vollzeit verdienten hingegen nur 19,12 Euro.“
Diese experimentelle Fahrt bedeutet also für einen Durchschnittsverdiener bis zu 46 Euro Wertverlust durch Verspätung. In den Ticketpreisen würde er das nicht gern sehen, vermute ich.
Der Rest der Reise sei anekdotenhaft erzählt:
Ich verlasse am Zielbahnhof den Zug. Weder Kind noch Mutter sind zu sehen. Nach zwei, drei Minuten schicke ich eine WhatsApp. Tatsächlich kann man an diesem Bahnhof den Zug auf beiden Seiten verlassen, das kannte ich auch noch nicht. Entscheidender: Ich kann auch nicht auf beiden Seiten zugleich Ausschau halten. Während ich den Zug verließ, stürmte das Kind durch den Zug.
Weder hatte ich im Blick, daß der Zielbahnhof der Endbahnhof der Linie ist, noch hat mich die Mutter informiert, das dieser Zug für die Rückfahrt taugt. Also eine weitere Stunde Wartezeit, die tatsächlich nicht der Bahn anzulasten ist und die sich im Wiederholungsfall vermeiden ließe.
Im Hamburger Hauptbahnhof standen weitere, großzügige 24 Minuten Umsteigezeit zur Verfügung (als Bahnreisender, das habe ich bereits begriffen, lernt man, solche Puffer wertzuschätzen: Je größer, je besser) und so ein Kind neigt dazu, auch auf kürzeren Strecken zu verhungern.
Der Burger King im Hauptbahnhof, die kleine Schlange davor, die unglaublich langsame Bestellannahme der offenkundig neu eingestellten Mitarbeiterin und der bereits durch Verspätung angefressene Zeitpuffer verbündeten sich und schon wieder erreichten wir den Anschluß nicht. Soll heißen: Wir hätten ihn eben und eben noch erreichen können, wenn ich bereit gewesen wäre, den Zug mit stinkendem Fast Food zu stürmen und bei heruntergerissenen Masken Burger, Pommes und Kaffee auf den Schulter unserer Mitreisenden herunter zu schlingen. Falls ich asozial bin, dann wenigstens nicht auf diese Weise. Wieder eine Stunde verloren. Am Ende habe ich für Hin und Zurück acht Stunden benötigt. Für eine Strecke von etwa 260 Kilometern. Statt fünf Bahnstunden. Statt drei Autostunden.
Es gibt weitere Aspekte, die bedacht werden wollen. Das Kind hatte um 12:30 Schulschluß. Ein Bahnhofstreffen wäre wohl auch schon um 12:58 denkbar gewesen. Wenn nicht ein Streckenabschnitt zu dieser Stunde auf den ICE entfallen wäre.
Für den gesellschaftlichen Normalfall wären deswegen für diese Fahrt etwa 13 Euro mehr zu zahlen gewesen. (Zu anderen Zeiten auch mal 10 Euro oder 27 Euro). Ohne daß der Fahrgast auch nur irgendwie bevorteilt worden wäre. Völlig absurd. Gesetzt den Fall, ich hätte diese Option gewählt, hätte sich die Bummelbahn eine Stunde zuvor nicht verspäten dürfen und hätte die ausgefallene Signalanlage eine Stunde zuvor noch funktionieren müssen. Ich bin skeptisch.
Dann ist weiter zu beachten: Ich bin am frühen Morgen die vielleicht drei Kilometer mit dem Auto zum Bahnhof gefahren. Weniger, um mich zu schonen, mehr, um nicht am Abend noch ein genervtes Kind hinter mir herschleifen zu müssen.
Auch auf der anderen Seite der Strecke hat die Mutter das Kind zum Bahnhof gefahren. Sonst wäre eine zwanzigminütige Umsteigezeit zu addieren sowie die Benutzung zweier Busse. Und es wäre ein anderer Zielbahnhof geworden. Ich erspare mir die Berechnung. Doch wenn man die Wege zur Bahn addierte, so käme man gewiß auf eine weitere halbe Stunde. Die nur für Autofahrer einsparbar ist.
Das Ende des Wochenendes ist für gewöhnlich der Sonntag. Im diesem Moment des Schreibens ist es 7:48. Das Kind schläft noch. Wollte ich den Rückweg mit der Bahn antreten, müßte ich um 14:00 losfahren, wenn ich um 22:00 wieder zurück sein wollte. Acht Stunden sind großzügig gerechnet. Einerseits. Andererseits beträgt der Zeittakt der Regionalbahnen am Sonntag statt sechzig Minuten hundertundzwanzig. Jeder verpaßte Anschlußzug würde mit zwei Stunden ins Kontor hageln. Hm.
Was ich als Autofahrer gelegentlich auch mache: Das Kind direkt zur Schule fahren. Bei Abfahrt um 5:30 ist der Schulstart um 7:30 locker erreichbar. Mit der Bahn sähe ich einen Konflikt zum Schulpflichtgesetz auf mich zukommen.
Aber es ist nicht so, daß eine Bahnfahrt nicht auch schöne Seiten hätte. Diese attraktive und kluge Barkeeperin aus Süddeutschland hätten wir sonst nicht kennengelernt. 👀 Gute Fahrt.
eine Fortsetzung findet sich hier:
Noch einige Worte zum ÖPNV finden sich hier: